Akupunktur ist nicht gleich Akupunktur

Mirco Wicki • 1. September 2025

Ein kritischer Blick auf Stilrichtungen, Qualität, Philosophie und Wirkung der Akupunktur

Wenn Menschen heute Akupunktur hören, haben viele ein Bild im Kopf: ein paar Nadeln, irgendwo im Körper platziert – und dann soll das helfen?!? Andere haben es vielleicht schon erlebt: entspannend, wirksam, wohltuend. Und wieder andere haben sich nie herangewagt, aus Angst vor Schmerzen oder Zweifeln an der Wirksamkeit. Doch so unterschiedlich wie die Reaktionen, so vielfältig ist auch die Welt der Akupunktur. Denn: Akupunktur ist nicht gleich Akupunktur.


Ich schreibe diesen Text als Therapeut – für alle, die auf der Suche sind: nach Linderung, nach neuen Wegen, nach einem Verständnis für den eigenen Körper und für das, was Akupunktur leisten kann. Und auch dafür, was sie manchmal nicht leisten kann. Denn gerade bei einem so alten und zugleich modernen Heilverfahren lohnt sich ein genauerer Blick.

1. Zwischen China, Japan und der westlichen Medizin – viele Stile, viele Zugänge

Akupunktur stammt ursprünglich aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), ist heute aber längst nicht mehr auf China beschränkt. Verschiedene Länder, Schulen und Kulturen vor allem im asiatischen Raum haben eigene Zugänge entwickelt – mit unterschiedlichen Techniken, Nadeln, Diagnostikverfahren und therapeutischer Haltung.


Chinesische Akupunktur (TCM)

Die klassische chinesische Akupunktur arbeitet häufig mit etwas dickeren Nadeln und einem stärkeren Reiz. Die Stimulation eines „De-Qi“-Gefühls (ein Ziehen, Kribbeln oder Druckgefühl) gilt hier als Zeichen, dass der Punkt „reagiert“. Die Nadeln werden meist tiefer gestochen, teilweise gedreht oder manipuliert. Das Augenmerk in dieser Akupunktur liegt darin, was der Patient empfindet. Ergänzend kommen Methoden wie Moxibustion (Wärmetherapie mit Beifuß), Schröpfen, Guasha(Chin. Massageform) oder Chinesische Kräutertherapie zum Einsatz.


Japanische Akupunktur

Die japanische Akupunktur geht einen anderen Weg: feiner, sanfter, oft berührungsnäher. Die Nadeln sind dünner (teilweise nur 0,12 mm) und werden häufig mit einem Führungsröhrchen eingeführt, was den Einstich praktisch schmerzfrei macht. Es wird weniger manipuliert – der Körper wird eingeladen, nicht gedrängt. Das Augenmerk dieser Akupunktur liegt darin, was der Therapeut spürt. Eine wichtige Rolle spielt die Palpation (Tastdiagnostik), um energetische Spannungen und Disharmonien in den Leitbahnen oder im Puls spürbar zu machen.


Shonishin – Akupunktur für Kinder

Für Kinder wurde in Japan eine ganz eigene Form der Akupunktur entwickelt: Shonishin. Hier wird ganz ohne das Einstechen gearbeitet. Statt Nadeln kommen kleine stumpfe Instrumente zum Einsatz, mit denen bestimmte Punkte und Meridiane sanft gestrichen, geklopft oder gedrückt werden. Die Methode ist völlig schmerzfrei und eignet sich hervorragend für Säuglinge, Kleinkinder, Jugendliche und sensible Menschen.


Westliche medizinische Akupunktur

In vielen Hausarzt- und Orthopädiepraxen wird Akupunktur heute als Ergänzung zur Schulmedizin angeboten. Die Ausbildung dafür erfolgt oft in kurzen Modulen oder Wochenendseminaren. Ziel ist es meist, bestimmte Indikationen wie Rückenschmerzen, Arthrose oder Migräne mit einem festen Punkteschema zu behandeln. Diese sogenannte „medizinische Akupunktur“ basiert nicht immer auf der klassischen Lehre von Qi, Yin-Yang und den Organbezügen, sondern oft auf neurophysiologischen Reiz-Reaktions-Mechanismen.

2. Die Sache mit den Nadeln – Dicke, Länge und Angst

Viele Menschen zögern, weil sie Angst vor Nadeln haben. Diese Angst ist verständlich – doch sie beruht oft auf Erfahrungen mit Spritzen, Blutabnahmen oder Injektionen. Die Nadeln in der Akupunktur sind jedoch ganz anders:

  • Tiefe oder oberflächliche Akupunktur; Nach dem Yin und Yang-Prinzip gilt wie im Außen so auch im Innen. Je nach Kultur oder Verständnis wird in der Chinesischen Akupunktur die Nadel eher tiefer gesetzt und in der Japanischen Akupunktur eher oberflächlich.
  • Sie sind haarfein – etwa so dünn wie ein menschliches Haar (zwischen 0,12–0,30 mm).
  • Viele Nadeln sind mit Führungsröhrchen versehen, was einen nahezu schmerzfreien Einstich ermöglicht.
  • Die Länge variiert je nach Körperregion – von wenigen Millimetern (z. B. im Ohr oder Gesicht) bis zu mehreren Zentimetern bei tiefer liegenden Punkten am Gesäß oder Rücken.
  • Es gibt auch nicht-invasive Instrumente wie den Teishin, der Punkte lediglich berührt – ideal für junge und sensible Patienten. Allerdings eignet sich diese Form auch für Erwachsene


Und: Ein erfahrener Therapeut sticht nicht einfach „rein“. Er oder sie fühlt vorher, tastet den Punkt, prüft Spannung, Gewebequalität, Puls – und entscheidet dann achtsam über Ort, Tiefe und Technik. In den Händen eines sensiblen Therapeuten ist Akupunktur keine Überwindung, sondern oft eine Einladung zur Entspannung.

3. Akupunktur beim Hausarzt – sinnvoll oder zu technisch?

Es ist positiv, dass Akupunktur mittlerweile auch in vielen Hausarzt- und Orthopädiepraxen angekommen ist. Für viele Menschen ist das der erste Kontakt mit dieser Methode. Gleichzeitig lohnt sich ein kritischer Blick: Wird hier wirklich akupunktiert – oder nur genadelt?


Viele dieser Angebote basieren auf wenigen Stunden Fortbildung und festen Indikationslisten. Das bedeutet: Alle Patienten mit Kniearthrose bekommen dasselbe Punktemuster. Bei Rückenschmerzen ebenfalls. Das kann funktionieren – aber es ist weit entfernt von der Tiefe und Individualität, die Akupunktur eigentlich ausmacht.


Denn: In der klassischen chinesischen und japanischen Medizin ist nicht nur die Symptomatik entscheidend, sondern auch das Muster dahinter. Warum hat dieser Mensch Rückenschmerzen? Woher kommt die Migräne – von Leber-Qi-Stagnation, Blutmangel oder von einem Nieren-Yin-Mangel? Eine fundierte Diagnostik ist das Herzstück jeder wirkungsvollen Akupunkturbehandlung.


Eine gute Akupunktur beinhaltet auch handwerkliches Geschick. Demnach stellt sich ebenfalls die Frage über die technische Vorgehensweise der Akupunktur. Nicht selten berichten Patienten/-innen über eine schmerzhafte Akupunktur, die vor einer zweiten Sitzung abschreckend wirkt und gleichzeitig den Weg zur weiteren Behandlung oder weiteren Therapeuten verwehrt.

4. Qualität der Ausbildung – ein unsichtbarer, aber entscheidender Faktor

Die Unterschiede in der Ausbildung sind enorm. Sie reichen von Wochenendkursen (z. B. für abrechnungsfähige Schmerzindikationen) bis hin zu mehrjährigen berufsbegleitenden Studiengängen mit mehreren hundert Unterrichtsstunden, Praktika, Supervisionen und tiefgreifender Auseinandersetzung mit der Philosophie.


Woran erkennt man einen gut ausgebildeten Akupunkteur?

  • Er oder sie stellt Fragen – zur Symptomatik, Temperaturempfinden, Schlaf, Emotionen, Verdauung, Energie, Zyklus etc.
  • Es wird Puls und Zunge diagnostiziert – nicht nur gefragt, wo es weh tut.
  • Die Behandlung wird individuell angepasst – nicht nach Schema F durchgeführt.
  • Der Therapeut kann erklären, was er tut – und warum.


Menschen, die mit echter Begeisterung akupunktieren, strahlen etwas aus: Ruhe, Klarheit, Neugier. Sie sind nicht nur Techniker – sie sind Begleiter. Für sie ist Akupunktur nicht nur Methode, sondern Lebenshaltung.

5. Was kann Akupunktur wirklich leisten?

Akupunktur ist kein Allheilmittel – aber ein erstaunlich vielseitiges Werkzeug. Zahlreiche Studien zeigen inzwischen die Wirksamkeit bei:

  • chronischen Schmerzen (Rücken, Knie, Nacken)
  • Spannungskopfschmerzen und Migräne
  • Menstruationsbeschwerden und hormonellen Dysbalancen
  • Schlafstörungen, Unruhe, Burnout
  • Allergien, Asthma, Hauterkrankungen
  • Verdauungsproblemen, Reizdarm
  • Schwangerschaftsbegleitung, Geburtsvorbereitung, Kinderwunsch


Akupunktur wirkt dabei nicht durch Suggestion oder Placebo – sondern durch messbare Veränderungen im vegetativen Nervensystem, in der Durchblutung, im Hormonhaushalt und in der Schmerzwahrnehmung. Sie reguliert, balanciert, aktiviert.

Und sie wirkt auf mehreren Ebenen: körperlich, emotional, energetisch.

6. Für wen ist Akupunktur geeignet – und wie beginne ich?

Du musst keine Diagnose haben, um mit Akupunktur zu beginnen. Vielleicht hast du Beschwerden, die „keine Ursache“ haben oder zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Vielleicht suchst du eine sanfte Begleitung in schwierigen Lebensphasen. Oder du möchtest einfach deinen Körper besser spüren, deine Selbstregulation stärken.

Akupunktur kann genau hier ansetzen – mit Respekt, Geduld und Klarheit.


Wenn du unsicher bist oder Angst hast:

  • Sag es. Ein guter Therapeut nimmt dich ernst und geht auf Deine Fragen ein.
  • Es gibt sanfte Formen – wie Shonishin, Teishin oder japanische Stichtechniken.


Oft braucht es nur wenige Nadeln – weniger ist oft mehr.


Fazit: Akupunktur ist so individuell wie Du selbst

Akupunktur ist keine Methode, die man „mal ausprobiert“. Sie ist ein feines Handwerk, eine Begegnung mit deinem Inneren, ein Impuls zur Regulation. Ob chinesisch oder japanisch, Körper- oder Ohrakupunktur, mit Nadel oder ohne – entscheidend ist die Haltung, mit der gearbeitet wird.


Achte auf Ausbildung, Haltung, Erfahrung – und auf dein Bauchgefühl.


Denn gute Akupunktur tut nicht weh – sie berührt und bewegt.


Wenn du neugierig geworden bist, dich aber noch nicht traust: Nimm gerne Kontakt auf. Frag nach einem unverbindlichen Kennenlerngespräch. Spür hinein. Und erlaube dir, auch mit leisen Mitteln große Wirkung zu erfahren.

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